Genialico Adventskalender #20:
Die Verhochschulung der Schule
– ein Gedankenspiel
In den letzten Jahren wird immer wieder von einer Verschulung der Universitäten gesprochen – häufig auch als kritische Auseinandersetzung im Zusammenhang mit dem sogenannten Bologna-Prozess, der als Ziel die europäische Vereinheitlichung der Hochschulsysteme hatte. Seitdem sei es zu deutlich mehr Anwesenheitspflichten und Präsenzzeiten für Studierende, weniger Raum für Eigenstudien, strikter vorgegebenen Curricula (Studienverläufen), und damit weniger Wahlmöglichkeiten für eigene Interessen gekommen. Außerdem sei ein Abschluss in Regenstudienzeit bedeutender geworden als die tatsächlichen Kompetenzen nach dem Studium.
Dahinter stünden auch erhöhte Studierendenzahlen, sowie wirtschaftliche Forderungen und Rahmenbedingungen.
Doch was wäre, wenn es neben einer Verschulung der Universitäten andersrum auch zu einer „Verhochschulung der Schulen“ kommen würde? Welche positiven Aspekte könnte man bewusst von Universitäten auf Schulen transferieren? Im Folgenden werde ich dieses Gedankenspiel einmal in Kürze anschneiden und einige Überlegungen anstoßen.
Die Lehrprogrammleitung
Ein wesentlicher Unterschied zwischen Studiengängen und dem Unterricht in der Schule ist die Art der Festlegung der zu vermittelnden Inhalte.
In der Schule gelten die altbekannten Lehrpläne, die sich für manche Lehrer*innen teils wie ein Korsett anfühlen und manchmal einen enormen Druck für Lehrpersonen auslösen können. Wenn die Klasse für einige Themen mehr Zeit benötigt, kann dies häufig nicht berücksichtig werden, da der Blick immer auf der vollständigen Vermittlung des Lehrplans liegt. Ebenso wenig möglich ist häufig ein Exkurs oder eine Vertiefung in eigene Erfahrungen oder Beschäftigungen der Lehrer*innen. Kennt sich ein*e Lehrer*in mit einem Gebiet besonders gut aus und möchte diese Begeisterung, die sich von einem bestimmten Gebiet auf das gesamte Fach ausweiten kann, gerne an Schüler*innen weitergeben, ist dafür oft gar kein Platz.
Im Unterschied zu Lehrplänen gibt es in Universitäten das festgelegte Curriculum mit Themen, Fächern und Lernzielen, die in unterschiedlichen Modulen erreicht werden sollen. Auch wenn diese möglicherweise in den letzten Jahren oder Jahrzehnten immer strikter, engmaschiger und mit weniger Freiheiten gestaltet worden sind, sind die genauen Themenschwerpunkte häufig offen. Als Beispiel steht im Curriculum eines filmwissenschaftlichen Studiengangs die Vorlesung „Filmgeschichte“, deren Umfang und Kernziele zwar festgelegt werden, das genaue Thema allerdings zwischen Professor*innen bzw. Dozent*innen und Studienprogrammleitung für jedes Semester neu festgelegt werden kann. So thematisiert die Vorlesung in einem Semester möglicherweise den Musikfilm zwischen 1918 und 1939, während es im nächsten Semester um die Entwicklung des Genres der Komödie geht.
Die Dozent*innen halten in dem Fall die Vorlesung über ein Thema, mit dem sie sich in ihrer Forschung intensiv auseinander gesetzt haben. Wenn sie einen Aspekt besonders vertiefen möchten, ist das jederzeit möglich, solange die Kernziele der Lehrveranstaltung erreicht werden.
Dabei gibt es natürlich auch einige Grundinhalte und grundlegende Vorlesungen, die alle Studierenden lernen sollen und größtenteils immer gleich vermittelt werden.
Wie wäre es, wenn es statt fixen Lehrplänen für Schulen einheitliche Curricula / Rahmenbestimmungen für den Lehrverlauf geben würde? In diesem Curriculum für Schulfächer wären selbstverständlich grundlegende Inhalte genau festgelegt, die Schwerpunktsetzung und exakte Themenwahl wäre unter der Berücksichtigung von festgelegten Kernzielen allerdings an vielen Stellen offen gestaltet. Ergänzend dazu könnte es beispielsweise auf Schul-Ebene eine Fachprogrammleitung geben, die Anpassungen und Schwerpunkte innerhalb dieser Curricula mit den Lehrenden abstimmt und von diesen begründen lässt. Es wäre dabei viel mehr Praxisbezug möglich, genauso wie ein anschaulicher Unterricht, eine stärkere Berücksichtigung der verschiedenen Bedürfnisse und Interessen unterschiedlicher Klassen, sowie eine deutlich größere Freiheit für Lehrer*innen.
Die Lehrenden
In Schulen unterrichten an Universitäten ausgebildete Personen, die sich meist direkt nach der Schule für den Lehramtsstudiengang entschieden haben. Im Anschluss an diesen beginnen sie zu unterrichten und müssen neben dem Studienabschluss und Referendariaten meist keine weiteren großen Prüfungen, Erfahrungen und Kompetenzen vorweisen. Dieser Aspekt und insbesondere Lehrer*innen sollen an dieser Stelle nicht grundlegend kritisiert werden, hierbei geht es um einen Vergleich zu Lehrenden an Universitäten und um ein Gedankenspiel.
Um an Universitäten lehren zu können durchläuft man entweder eine lange wissenschaftliche Laufbahn, in der man selbst Wissen produziert, sich laufend mit wissenschaftlichen Thematiken forschend auseinandersetzt und sein wissenschaftliches Arbeiten immer wieder verteidigt. Oder man wird aufgrund von praktischer Erfahrung als Dozent*in an eine Universität berufen, weil man besondere Erfahrungen in der Praxis gesammelt hat oder sich durch besondere Erfolge und Positionen in einem praktischen Fachgebiet auszeichnet.
In diesem Gedankenspiel würden zum einen Quereinsteiger eine deutlich größere Rolle in Schulen spielen. Im Zusammenhang mit dem oben formulierten Aspekt des Curriculums statt eng geschnürten, bis auf die Mikroebene exakt ausgeführten Lehrplänen wären deren Erfahrungen und Kompetenzen ebenfalls von größerer Bedeutung. Außerdem würden zusätzliche Kompetenzen und praktische Erfahrungen von Lehrer*innen mehr geschätzt und möglicherweise sogar erwartet werden.
Lehre und Forschung
Im Zentrum des Universitätsbetriebs steht die Verbindung von Forschung und Lehre. Professor*innen und Dozent*innen die fest am Institut angestellt sind, haben sowohl Aufgaben in der aktiven Forschung, als auch in der Vermittlung und Lehre.
Ein weiterer interessanter Aspekt in diesem Gedankenspiel wäre ein Transfer dieser Verknüpfung auf der Schulbetrieb.
Wie wäre es, wenn sich Lehrer*innen neben der Vermittlung von Wissen ebenso mit neuen Entwicklungen, eigenen Interessen und Schwerpunkten, sowie einer Art angewandten Forschung auseinandersetzen würden? Wenn sich Deutschlehrer*innen neben seit Jahrzehnten thematisierten Klassikern und Wissensbeständen auch mit aktuellen Entwicklungen der Sprache und neuen Publikationen beschäftigen würden und somit ebenso eine kleine Form von aktiver, angewandter Forschung betreiben würden. Oder wenn Physiklehrer*innen z.B. mit Universitäten im Austausch stehen und sich mit neuen Erkenntnissen der laufenden Forschung befassen. Zusammen mit den anderen beiden Punkten wären diese Erkenntnisse und Aktivitäten ebenso Bestandteil des Unterrichts und der Wissensvermittlung.
Zentrale Kompetenzen
Wenn man nach zentralen Zielen von Hochschulen fragt, fallen häufig die Kompetenzen Urteilsvermögen, begründete Meinungsbildung, Argumentation, Kreativität und Eigenständigkeit. In diesem Gedankenspiel stünden diese Kernkompetenzen ebenso im Fokus der Lehre an Schulen.
Die Fähigkeit, Aussagen, Situationen, Statistiken und Zusammenhänge selbst nachvollziehen und einordnen zu können, würde eine viel größere Bedeutung in weiterführenden Schulen einnehmen.
Durch die veränderte Arbeitswelt und Gesellschaft würde auch die Ausbildung der Kreativität von Schüler*innen eine zentrale Rolle einnehmen. Kreativität entsteht dann und wird dann benötigt, wenn das Endresultat noch offen und nicht vorgegeben ist. In Lehrplänen und in den Inhalten, die in der Schule vermittelt werden, ist das Endergebnis allerdings in den allermeisten Fällen klar vorgegeben und ausführlich definiert.
Außerdem würde die Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit deutlich früher gezielt gefördert und beachtet werden. Das könnte zum Beispiel mehr Wahlmöglichkeiten ab einer gewissen Jahrgangsstufe (z.B. 8. Klasse) bedeuten, ebenso wie freiwillige. bzw. offener formulierte Hausaufgaben, Prüfungsvorbereitungen und offenere Unterrichtsformen.
Genauso würde auch deutlich häufiger das forschende Lernen verwendet werden, bei dem es eher um das Fragen stellen und eigene Erschließen von Wissen geht, statt einem „So ist das, so funktioniert das und genau so müsst Ihr das lernen“.
Fazit
Wie Du merkst, handelt es sich bei den angesprochenen Punkten keinesfalls um konkrete Vorschläge, die genau in dieser Form umgesetzt werden sollten und könnten. Dazu würden natürlich weitere Anpassungen, Umstrukturierungen und ausführliche Überlegungen nötig werden. Wie im Beitrag oft erwähnt handelt es sich hierbei lediglich um ein Gedankenspiel, mit dem Ziel, Fragen zu stellen und ein Hinterfragen anzuregen, einfach mal darüber nachzudenken, was es denn an Möglichkeiten und neuen Strukturen geben könnte, wenn man Schulen aus dem Blick der Universitäten betrachtet. Dabei könnten sicherlich auch noch weitere Aspekte ausgeführt werden.
Eine Schule, die näher an der immer schneller fortschreitenden Entwicklung liegt. Ein Schulsystem, in dem Lehrer*innen mehr Freiheiten haben, gewisse Schwerpunkte setzen und eigene Erfahrungen vermitteln können, dabei den Unterricht dennoch nicht vollkommen nach Lust und Laune gestalten, sondern sich an fest formulierte Kernziele halten.
Eine Schule, die nicht abseits der Realität läuft, sondern ebenso wie Universitäten eine Art Forschungsauftrag hat, der im Vergleich zur Universität geringer und angewandter ausfällt.
Eine Schule, in der es neben der Vermittlung von vertieftem Allgemeinwissen ebenso ganz zentral um Kompetenzen wie Eigenständigkeit, Kreativität, Urteilsvermögen, Argumentation und begründeter Meinungsbildung geht.
Könnte so eine „Verhochschulung“ oder „Veruniversitätisierung der Schule“ aussehen? Beziehungsweise mal abgesehen von diesem Gedankenspiel:
Was könnten sich Schulen von Universitäten abschauen?
Ein spannendes Überlegen und eine schöne Zeit!
Dein
Maximilian Aldinger