Lehrer Heiko Meier passierte eine fatale Verwechslung
Ich finde die Geschichte immer wieder klasse und deshalb erzähle ich sie auch allen unseren Teilnehmerinnen und Teilnehmern in der Premium-Ausbildung zum Lerncoach-Advanced beziehungsweise Azubi-Coach Advanced.
Die Geschichte stammt von Heiko Meier (Name geändert), einem Lehrer eines Gymnasiums.
Wir waren gerade im Modul „Macht der Sprache“ der Ausbildung angelangt als Heiko diese Geschichte erzählte:
„Ich war völlig neu an dem Gymnasium, hatte meine 10. Klasse gerade mal 3 Monate – in Deutsch. Der nächste Eltern-Abend stand an und ich bereitete mich sorgfältig darauf vor. Zuhause ging ich in Gedanken noch einmal alle Schülerinnen und Schüler durch, machte mir Notizen, was mir bei der jeweiligen Schülerin beziehungsweise dem jeweiligen Schüler einfiel und fühlte mich perfekt vorbereitet.
Klar, war ich aufgeregt – so ein Eltern-Abend ist oft kein Zuckerschlecken.
Also kam besagter Abend. Die Eltern-Gespräche begannen und es bereitete mir sehr viel Spaß. Meine gute Laune schien überzuschwappen. Bis zu dem Gespräch mit Katharinas Mutter. Ich erzählte ihr von den sehr guten Leistungen ihrer Tochter, vor allem auch den immer sehr treffenden und vor allem wertvollen Unterrichtsbeiträgen. Ihr Engagement und Verständnis sei wirklich nur lobenswert. Katharinas Mutter schaute manches Mal sehr überrascht und staunte oft darüber, was ich da so von mir gab. Sie fragte manchmal: „wirklich?“ Ich sagte ihr, dass ich bei Katharina absolut sicher wäre, dass sie eine gute Note im Jahreszeugnis erreichen würde. Die Tendenz sei ja schon stark steigend. Sie dürfe sehr stolz auf ihre Tochter sein.
Die 5-Minuten-Redezeit hatte ich knapp überschritten, als Katharinas Mutter das Klassenzimmer wieder verließ. Ich schaute auf meine Liste der weiteren Eltern-Gesprächs-Termine und stockte. „So ein Mist, oh man, das darf ja wohl nicht wahr sein …. oh je, was mache ich denn jetzt?“ Das waren Gedanken, die mir durch den Kopf schossen. Ich hatte nämlich zwei Katharinas in der Klasse – eine davon war eine wirklich sehr gute Deutsch-Schülerin – die andere leider das extreme Gegenteil. Die Mutter die ich gerade verabschiedet hatte war allerdings die Mama von der nicht so guten Deutsch-Katharina. Ich durfte mir schnell etwas überlegen – wobei, nein, wenn ich ehrlich bin, dann hatte ich ja gar keine Zeit zum Überlegen. Die nächsten Eltern standen schon vor der Klassenzimmer-Türe. Gut war auf jeden Fall, dass die Mutter der guten „Deutsch-Katharina“ erst in 1,5 Stunden zu mir kam. Lange Rede, kurzer Sinn: ich erzählte den Eltern – in diesem Fall kamen beide – das ähnliche, also nur Gutes über ihre Tochter. Und nein, ich habe meine Verwechslung nicht korrigiert. Ich habe das Gesagte einfach so stehen gelassen. Fertig. Punkt. Aus.
Was dann geschah ist der absolute Hammer. Katharina die Erste – also die, die in Deutsch eher schlecht war, entwickelte sich gigantisch. Sie wurde noch während des Schuljahres extrem besser und stellt Euch vor: sie schrieb eines der besten Deutsch-Abis. Unglaublich, oder?
Ist das unglaublich?
Nicht wirklich. Als Lerncoach wissen wir, welche Macht die Sprache hat. Und noch viel mehr: welche Macht Gedanken haben. Gedanken, die Gefühle auslösen – zum Beispiel Ängste oder ähnliches.
Es ist eine sehr schöne Geschichte – eine geniale Verwechselung, die auch schon dieses sehr umstrittenen Experiment vor vielen Jahren zeigte:
Das klassische Experiment von Rosenthal und Jacobson – interessant für Lehrerinnen und Lehrer
1965 untersuchten die US-amerikanischen Psychologen Robert Rosenthal und Lenore F. Jacobson in einem Feldexperiment die Lehrer-Schüler-Interaktionen an einer Grundschule. Die Schule war, obwohl es sich um eine Grundschule handelte, dreizügig. Es gab einen mittleren, einen schnellen und einen langsamen Zug. Dies ist bei öffentlichen Grundschulen in den USA üblich.
In einer US-amerikanischen Grundschule wurde Lehrern vorgetäuscht, dass auf der Basis eines wissenschaftlichen Tests die Leistungspotenziale der Kinder eingeschätzt werden sollten. Durch diesen Test würden, so die Schilderung gegenüber dem Lehrer, die 20 Prozent Schüler einer Schulklasse identifiziert werden, die kurz vor einem Entwicklungsschub ständen. Von diesen Bloomers (Aufblühern) oder Spurters (Sprintern) sei im folgenden Schuljahr mit besonderen Leistungssteigerungen zu rechnen.
In Wirklichkeit wurden die 20 Prozent der Schüler jedoch ohne Wissen der Lehrer zufällig per Los ausgewählt.
Durch den Test wurde nicht das Leistungspotenzial der Schüler, sondern deren IQ gemessen. Acht Monate nach dem ersten IQ-Test wurde dieser mit allen Schülern der Grundschule wiederholt. Interessanterweise war die IQ-Steigerung bei den zwanzig Prozent Schüler, deren Leistungssteigerungspotenzial besonders hoch eingestuft wurde (Experimentgruppe), deutlich größer als bei Schülern, denen kein besonders Leistungssteigerungspotenzial identifiziert wurde (Kontrollgruppe).
Weil außer der Information der Lehrer über das vermeintliche Leistungssteigerungspotenzial alle anderen Bedingungen konstant gehalten wurden, kann der einzige Grund für die faktische Leistungssteigerung der Schüler in den Erwartungen der Lehrer gegenüber diesen Schülern gelegen haben.
Nach einem Jahr konnte festgestellt werden, dass die Kinder aus der Gruppe der Aufblüher ihren IQ viel stärker steigern konnten als Kinder aus der Kontrollgruppe. Der Effekt war bei Kindern der ersten und zweiten Klasse besonders stark. Die größten IQ-Gewinne wiesen die Schüler des mittleren Zuges der Oak School auf. Insgesamt konnten 45 Prozent der als Aufblüher ausgewählten Kinder ihren IQ um 20 oder mehr Punkte steigern, und 20 Prozent konnten ihn gar um 30 oder mehr Punkte steigern. Interessant war, dass die IQ-Steigerungen bei den Kindern am stärksten waren, die ein besonders attraktives Äußeres hatten. Auffällig war weiterhin, dass der Charakter der so genannten Aufblüher von den Lehrern positiver beurteilt wurde.
Interessant ist auch, was ich dazu im „Lexikon der Psychologie“ gefunden habe:
Pygmalion-Effekt, auch: Rosenthal-Effekt. …. In Felduntersuchungen konnte inzwischen dutzendfach belegt werden, dass die Erwartungen eines Lehrers bezüglich der Leistungen bestimmter Schüler nicht nur seine Beurteilungen der Schüler (Urteilsfehler), sondern auch die tatsächlichen Leistungen beeinflussen. Dies gilt selbst dann, wenn die Schüler von den Erwartungen nichts wissen und der Lehrer glaubt, sich neutral zu verhalten. Die Beeinflussung des Schülerverhaltens wirkt dabei indirekt über ein positives emotionales Klima, das der Lehrer erzeugt, differenziertere Rückmeldungen, die Präsentation angemessener Lerninhalte und die Schaffung zusätzlicher Möglichkeiten für den Schüler, sich zu Wort zu melden (Hawthorne-Effekt, Lehrer-Attributionen).(Quelle: www.spektrum.de/lexikon/psychologie/pygmalion-effekt/12286)
Was bedeutet das für alle Lehrerinnen und Lehrer in der täglichen Unterrichtsroutine?
Immer nur durch die rosarote Brille gucken?
Was sind denn Probleme?
Ja, ich weiß, zum Beispiel „ihr Kind kann sich nicht konzentrieren“, „ihr Kind stört laufend den Unterricht“, „ihr Kind arbeitet nicht sorgfältig genug“, „ihr Kind vergisst die Unterlagen/Hausaufgaben regelmäßig“ ….und so weiter.
Das sind Aussagen, die Eltern ganz bestimmt häufig zu hören bekommen. Und was uns viele Eltern schildern ist, dass sie dann völlig hilflos da stehen. Sie wissen zwar, was ihr Kind falsch macht, allerdings nicht, was sie dagegen tun sollen.
Hier wünsche ich mir Lehrerinnen und Lehrer, die den Eltern echte Tipps, Strategien und Hilfsmittel an die Hand geben.
Und noch viel wichtiger:
Warum sprechen wir immer über „Probleme“, über Dinge, die das Kind falsch macht?
Probleme entstehen, weil Menschen bestimmte Fähigkeiten (noch) nicht haben oder nicht anwenden, oder?
Es geht uns allen so:
[Tweet „wenn wir wissen, was wir falsch machen, wissen wir noch lange nicht, was wir stattdessen tun sollen!“]
Das bedeutet ein konkreter Tipp für alle Lehrerinnen und Lehrer, die etwas verändern möchten: anstatt von „Lass das“ zu reden, lieber von „Tu das“ sprechen.
Das bedeutet konkret zum Beispiel:
Anstatt „renn nicht immer im Schulhaus“ ist es besser zu sagen „geh bitte langsam im Schulhaus“.
Dieser Tipp gilt übrigens auch im generellen Miteinander und natürlich auch für Eltern.
Um auf die Probleme in der Schulstunde und dem Gespräch mit den Eltern zurück zu kommen:
Ich finde es toll, wenn Lehrerinnen und Lehrer nicht mehr von Problemen sprechen, sondern von noch zu lernenden Fähigkeiten.
So verlaufen Gespräche mit Eltern auf einmal völlig anders. Es ist nämlich ein großer Unterschied, ob ich Eltern sagen: „ihr Kind arbeitet nicht sorgfältig genug“ oder, meiner Meinung nach förderlicher und angenehmer: „ihr Kind darf lernen, die Blätter gerade ins Heft einzukleben.“ oder ähnliches.
Bei der ersten Aussage „ihr Kind arbeitet nicht sorgfältig genug“ gehen mit Sicherheit ganz viele Eltern erstmal in die „Abwehr- und Verteidigungshaltung“. Für mich völlig logisch und nachvollziehbar. Es handelt sich ja auch gefühlt um einen Vorwurf und wenn ich weiter interpretiere, dann könnte ich als Mutter auch noch darauf kommen, dass mir vorgeworfen wird, dass ich mein Kind nicht zur Sorgfalt erzogen habe. Vielleicht meint der Lehrer/die Lehrerin sogar, dass ich selbst unordentlich bin und so weiter … Es löst bestimmt des öfteren eine Interpretationswelle aus.
Bei der Aussage „ihr Kind darf lernen, die Blätter gerade ins Heft einzukleben“ werden bestimmt viele Eltern beipflichten und ganz wichtig: sie verstehen, welche Fähigkeit ihr Kind noch lernen darf.
Ein schönes Bild dazu ist:
[Tweet „an einem Problem tragen wir schwer – an einer neuen Fähigkeit erfreuen wir uns“]
Unsere Premium-Ausbildung heißt deswegen „Lerncoach Advanced“, weil bei uns die Macht der Sprache einen Baustein bildet. Ich bin überzeugt davon, dass viel mehr Miteinander von allen Seiten erfolgt, wenn auf die Sprache geachtet wird. Miteinander, damit meine ich die Zusammenarbeit von Lehrerschaft, Eltern und Schülern. Denn nur gemeinsam und miteinander macht Schule Sinn.
In diesem Sinne wünsche ich allen nur das Allerbeste.
Herzliche Grüße
Ihre
Alexandra Aldinger
Lerncoach für Kinder, Jugendliche und Erwachsene
Kinder- und Jugendcoach
Ausbilderin zum Lerncoach-Advanced und Azubi-Coach Advanced
Hier geht es zum kostenfreien Webinar für Lehrerinnen und Lehrer
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Danke für diesen Beitrag, der zur Übung in sorgfältigem Formulieren und in Achtsamkeit einlädt. Mein Partner und ich diskutieren häufig über selbsterfüllende Prophezeiungen und ich bin sehr überzeugt von der Macht des gesprochenen Wortes.
Liebe Frau Leidnecker,
vielen Dank für Ihren Kommentar.
Ja, es ist immer wieder – negativ als auch positiv – zu sehen, was unsere Sprache auslöst. Und wie toll, wenn wir alle Kenntnisse darüber haben, um deutlich wertschätzender miteinander umzugehen.
Herzliche Grüße
Alexandra Aldinger
Pygmalion-Effekt, Halo-Effekt – in den 70-er Jahren hat Ingenkamp dazu Studien gemacht, die auch in der Lehrerausbildung (bei mir jedenfalls) intensiv besprochen wurden, weshalb ich von Beginn meiner Lehrertätigkeit sehr sorgfältig mit dieser Problematik umgegangen bin.
Meine Erfahrung: SchülerInnen brauchen Zutrauen in sich selbst, um erfolgreich zu sein. Um das zu entwickeln, brauchen sie ein Gegenüber, das ihnen ihre Stärken rückmeldet (also Stärken stärken und ver- und bestärkendes Feedback). Das kann doch jede/r bei sich selbst gut beobachten.
Liebe Frau Ruep,
da geben wir Ihnen absolut recht und es freut uns sehr, dass Sie das auch in Ihrer Lehrerausbildung intensiv besprochen haben.
Vielen Dank für Ihren Kommentar.
Herzliche Grüße
Alexandra Aldinger